Die große Bühne der Finals in Berlin im vergangenen Jahr stellte für Darja Varfolomeev, die Sportgymnastin aus Fellbach-Schmiden, die optimale Plattform dar, um das Publikum mitzureißen und "Party zu machen". Bei ihren ersten deutschen Meisterschaften bei den Aktiven sahnte die Schülerin vier Goldmedaillen ab und spielte dabei nicht nur gekonnt mit ihren Handgeräten, sondern auch mit den Kampfrichterinnen und dem Publikum. Der Auftritt in der Max-Schmeling-Halle, den die Sportlerin mit „tollen Erinnerungen“ verbindet, war damit aber nur einer von vielen Höhepunkten, die sie 2022 erlebte.
Wenige Tage zuvor hatte die Debütantin bei den Europameisterschaften in Tel Aviv mit zwei Bronzeplaketten für ihre Ball- und Keulen-Darbietungen geglänzt. Bei den Welttitelkämpfen im Herbst in Sofia toppte sie dieses Ergebnis deutlich, stand in den Einzelentscheidungen viermal auf dem Podest, wirbelte unter anderem mit den Keulen zu Gold und im Mehrkampf zu Silber, was gleichbedeutend mit einem deutschen Quotenplatz für die Olympischen Spiele 2024 in Paris war.
„Ich hätte nie an so eine Entwicklung gedacht“, sagt die erst 16 Jahre alte Gymnastikkönigin des Deutschen Turner-Bundes (DTB). „Mir bedeutet das viel, denn es zeigt mir, dass die harte Arbeit sich lohnt.“
Mehr als die meisten anderen hat Varfolomeev in ihre Leidenschaft investiert. Im sibirischen Barnaul, 200 Kilometer südlich von Nowosibirsk, zur Welt gekommen, trat sie schon als kleines Kind in die Fußstapfen ihrer Mutter, die mit 18 Jahren ihre eigene Gymnastik-Karriere wegen Knieproblemen hatte beenden müssen und sich wünschte, ihre Tochter möge diese für sie fortsetzen. „Ich hatte keine Wahl“, sagt „Dascha“, aber sie lacht fröhlich dabei. „Ein Leben ohne RSG kann ich mir nicht vorstellen.“
In der russischen Heimat sah die Familie jedoch angesichts der großen Konkurrenz wenige Chancen, dass das Talent es in die Nationalauswahl schaffen würde. Durch einen deutschen Opa besaß Varfolomeev aber einen zweiten Pass, und so siedelte sie mit zwölf Jahren allein in das für sie fremde Land um; die Mutter konnte den Umzug ihrer Tochter nur im ersten Monat begleiten.
Es war nicht leicht, sich da durchzubeißen. Aber im Internat des RSG-Nationalmannschaftszentrums in Baden-Württemberg halfen alle dem Neuzugang bei der Eingewöhnung. Schnell lernte Varfolomeev die Sprache, sie geht zur Schule und steht täglich sechs Stunden in der Halle, um all die schweren Jonglagen mit den Handgeräten, die weit gespreizten Sprünge, die vielfachen Drehungen und die akrobatischen Elemente leicht erscheinen zu lassen und den Körper biegsam zu halten. „Ich habe hier viel mehr Freundinnen gefunden, als ich in Russland jemals hatte“, sagt die Athletin.
Seit dem vergangenen Jahr hat sie mit ihrem Vater zusammen eine Wohnung in der Nähe des Stützpunkts bezogen; die Mutter bleibt aus beruflichen Gründen in Russland, wo sie gut verdiene, sei aber am Geburtstag und bei allen wichtigen Wettkämpfen dabei. Auch jetzt, bei den Europameisterschaften vom 17. bis 21. Mai in Baku, zu denen sie die Oma mitbringe, die die Enkelin seit drei Jahren nicht gesehen hat. „Es ist ihr erster Flug“, erzählt Varfolomeev. Das werde aufregend für die Seniorin sein.
Sie selbst fühlt sich gut vorbereitet auf die Herausforderung in der Hauptstadt von Aserbaidschan. Die Schwierigkeit ihrer Programme hat sie zusammen mit Trainerin Yuliya Raskina erhöht, hat zwei neue Übungen mit Band und Reifen mitgebracht. Nach einer notwendig gewordenen Fußoperation im Dezember habe sie zwar eineinhalb Monate lang nicht springen können, aber auch in dieser Hinsicht befinde sie sich wieder im Aufwärtstrend.
Der Druck ist gewachsen; das ist der Ausnahmesportlerin bewusst. Nachdem es für deutsche Gymnastinnen jahrzehntelang keine Medaillen bei Europa- oder Weltmeisterschaften gab, „schauen die anderen Nationen jetzt wieder mehr auf uns“, stellt Varfolomeev fest. Für den hiesigen Nachwuchs seien sie und ihre Trainingskollegin Margarita Kolosov zu Vorbildern geworden. Die Rolle gefällt ihr, sie habe Spaß daran und finde es „süß“, wie sie bei Wettkämpfen um Autogramme und gemeinsame Fotos gebeten werde. Gleichzeitig ziehe sie selbst Kraft aus Kommentaren und aufmunternden Bemerkungen.
Varfolomeev gibt als besonders nervenstark. Sie selbst führt das auf das intensive Training zurück; „ich weiß, dass ich alles, was ich zeige, schon geschafft habe“, sagt sie. Vielleicht hilft ihr aber auch die konsequente Haltung, nicht auf Ergebnisse oder Medaillen zu schielen. Sie wolle einfach immer nur ihr Bestes zeigen und unterhalten. Jede Kür hat bei ihr einen anderen Charakter. Bei der „ungewöhnlichen“ mit dem Reifen ende sie als Rockstar, mit dem Ball gibt sie sich ansprechend weiblich, bei den Keulen ist einfach nur Feiern angesagt, und mit dem Band wird es so emotional, dass es die Mutter schon zum Weinen brachte. „Ich will nicht, dass man meint, ich könnte nur lächeln“, begründet die Gymnastin des TSV Schmiden das; sie wolle stattdessen Vielfalt beweisen. Eine Lieblingsübung habe sie nicht, „ich mag sie alle“. Die Musikauswahl, die sie zusammen mit Raskina trifft, sei jeweils nicht leicht; „man muss die Stücke ja mindestens ein Jahr lang mehrmals am Tag hören“. Die Anzüge werden passend dazu entworfen und angefertigt; für Schminken und Frisieren nimmt sich Varfolomeev jeweils etwa eine halbe Stunde Zeit. Outfit und Styling sind wichtige Faktoren in ihrer Sportart.
Obwohl das Olympiaticket, das sie für Deutschland holte, noch nicht ihren Namen trägt und vor den Spielen noch eine nationale Qualifikation angesetzt sein soll, zweifelt kaum jemand daran, dass sie im nächsten Jahr nach Frankreich fahren wird, sollte sie gesund und verletzungsfrei bleiben. „Das ist das, worauf ich mein ganzes Leben lang schon hinarbeite“, sagt Varfolomeev. Die Nummer eins im deutschen Gymnastikteam würde aber ungern alleine reisen und hofft, dass die für den SC Potsdam startende DM-Zweite Kolosov und die Gruppe bei der WM im August in Valencia weitere Startplätze sichern. Bei der EM in dieser Woche wollen alle zusammen schon mal eine Empfehlung abgeben. Danach freut sich Varfolomeev darauf, sich vom 6. bis 8. Juli bei den Finals im PSD Bank Dome von Düsseldorf auszutoben. Bei ihrer Premiere bei dem Multisportevent im vergangenen Jahr hatte sie noch die EM in den Beinen gespürt, „das war ganz schön anstrengend“, sagt sie. Diesmal könnte die Gymnastik-Queen frischer starten und dann die Zuschauerinnen und Zuschauer mit noch mehr Power begeistern.
Redaktion: DTB